Das Eisenbahnunglück ist eine Novelle von Thomas Mann Sie erschien erstmals am 6 Januar 1909 in der Neuen Freien Presse
Das Eisenbahnunglück

Das Eisenbahnunglück ist eine Novelle von Thomas Mann. Sie erschien erstmals am 6. Januar 1909 in der Neuen Freien Presse, Wien. Die erste Buchveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr in Der kleine Herr Friedemann und andere Novellen (= Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane, Jg. 1, Bd. 6). 1922 wurde Das Eisenbahnunglück in Novellen, Bd. I und 1958 in die Stockholmer Gesamtausgabe der Werke Thomas Manns aufgenommen. Es existieren auch Tonaufnahmen dieser Erzählung, unter anderem von Thomas Mann selbst und von Loriot.
Inhalt
Der Erzähler, ein Schriftsteller, berichtet von einem Eisenbahnunfall, den er zwei Jahre zuvor miterlebte. Von München aus sei er zu einem Vortrag mit dem Nachtzug nach Dresden gefahren – erster Klasse, denn die Reisekosten seien ihm erstattet worden. Beim Einsteigen fällt ihm unter anderem ein selbstgefälliger Monokelträger mit Gamaschen und trotzig aufgesetztem Schnurrbart auf. Der ist, anders als der Erzähler, „weit entfernt vom Reisefieber, das sieht man klar, für ihn ist etwas so Gewöhnliches wie eine Abreise kein Abenteuer. Er ist zu Hause im Leben und ohne Scheu vor seinen Einrichtungen und Gewalten, er selbst gehört zu diesen Gewalten, mit einem Worte: ein Herr. Ich kann mich nicht satt an ihm sehen.“ Prompt nimmt er sich in einem unbeobachteten Augenblick die Freiheit, seinen Hund, eine hübsche kleine Dogge mit silbernem Halsband und farbig geflochtener Lederleine, verbotenerweise mit ins Schlafwagenabteil zu nehmen. Der Schaffner, ein martialischer Mensch mit gewaltigem Wachtmeisterschnauzbart und unwirsch wachsamem Blick – man „verkehrt nicht gern mit ihm, er ist streng, er ist wohl gar rauh, aber Verlaß, Verlaß ist auf ihn“ – behandelt den Herrn mit großer Unterwürfigkeit. Ein altes Mütterchen jedoch, das „um ein Haar in die zweite Klasse gestiegen wäre“, wird von ihm angeherrscht und grob zurechtgewiesen. (Zu Thomas Manns Zeiten gab es nicht nur Waggons erster und zweiter, sondern auch dritter und vierter Klasse. In letzterer fährt beispielsweise Felix Krull von Frankfurt nach Wiesbaden zur Musterung.)
Der Nachtzug setzt sich in Bewegung. Die meisten Passagiere haben sich zur Ruhe begeben. Der Erzähler liest noch ein wenig in seiner Reiselektüre, dann will auch er sich bettfertig machen, da passiert es: Ein gewaltiger Stoß, ein wildes Schlenkern des Waggons, dann ein Krachen, und der Zug steht. Nach einem Augenblick schockierter Stille bricht Panik aus. Den vorher noch so selbstbewussten Doggenbesitzer hört man um Hilfe schreien, dann „bricht er in seidenem Schlafanzug aus seinem Abteil hervor und steht da mit irren Blicken. ´Großer Gott!´, sagt er. ´Allmächtiger Gott!´ Und um sich gänzlich zu demütigen und so vielleicht seine Vernichtung abzuwenden, sagt er auch noch in bitterem Tone: ´Lieber Gott...´“. Dann greift er zur Selbsthilfe, versucht zunächst die Rettungswerkzeuge im Wagen zu erreichen und springt, als dies nicht gleich gelingt, auf den Bahndamm. Die übrigen Fahrgäste scharen sich hilfesuchend um den Schlafwagenkondukteur. Aber dieser lässt „seine amtliche Sachlichkeit dahinfahren“ und ist genauso fassungslos wie die Reisenden. Schließlich verlassen alle den Schlafwagen und versuchen sich ein Bild der Lage zu machen. Der Zug ist wegen einer falsch gestellten Weiche auf einen haltenden Güterzug aufgefahren. Menschenverluste sind nicht zu beklagen, doch, so heißt es, „die große Schnellzugsmaschine von Maffei in München“ sei „hin und entzwei“ und auch der Gepäckwagen sei zertrümmert, in dem sich auch das unersetzliche Manuskript des Schriftstellers befindet, an dem er bereits seit Jahren arbeitet. (Identifiziert man den Reisenden mit dem Autor Thomas Mann, so handelt es sich hier um das Manuskript des Romans Königliche Hoheit.)
Ein junger Mann, der den Gepäckwagen angeblich gesehen hat, macht Äußerungen, die das Schlimmste befürchten lassen. „Da stand ich“, berichtet der Erzähler. „Ganz für mich allein stand ich in der Nacht zwischen den Schienensträngen und prüfte mein Herz.“ Was würde er tun, wenn seine Niederschrift für immer verloren wäre? Er würde die Arbeit wohl oder übel wieder ganz von vorn anfangen müssen. Nun, da der Reisende sich auf sich selbst besinnt und an einen Neubeginn denkt, fangen auch die offiziellen Stellen wieder an zu funktionieren. Die Feuerwehr trifft ein; es stellt sich heraus, dass alles halb so schlimm und das Manuskript ebenso wenig wie der Gepäckwagen zerstört ist. Die Passagiere können in einem Ersatzzug weiterreisen. Die „Majestät des Unglücks“ hat für eine „tolle Lage“ gesorgt, nämlich für „Kommunismus“, wie der Herr mit der kleinen Dogge beklagt. Die Trennung in Klassen ist vorübergehend aufgehoben. Das alte Mütterchen, in München noch angeherrscht, fährt jetzt wie der Monokelträger in der ersten Klasse. Wohlbehalten wird man mit dreistündiger Verspätung in Dresden ankommen. Nur das Schoßhündchen sitzt, „allen Herrenrechten zuwider, in einem finsteren Verlies gleich hinter der Lokomotive und heult.“
Form
„Etwas erzählen? Aber ich weiß nichts. Gut, also ich werde etwas erzählen.“ – Bereits diese Einleitung zeigt die Tendenz des Erzählers, seine eigene Rolle herunterzuspielen. Später wird er sich über den als äußerst schmerzlich empfundenen Verlust seines angeblich vernichteten Manuskripts mit Selbstironie hinwegzutrösten versuchen: „Da stand ich. Ganz für mich allein stand ich in der Nacht zwischen den Schienensträngen und prüfte mein Herz. Räumungsarbeiten. Es sollten Räumungsarbeiten mit meinem Manuskript vorgenommen werden. Zerstört also, zerfetzt, zerquetscht wahrscheinlich. Mein Bienenstock, mein Kunstgespinst, mein kluger Fuchsbau, mein Stolz und [sic] Mühsal, das Beste von mir.“ Gleichzeitig dagegen lässt Thomas Mann in seiner Einleitung auch schon die Ironisierung des Obrigkeitsstaates anklingen, die den gesamten Text durchzieht und den eigentlichen Tenor der Geschichte bestimmt: „Eine Kunst- und Virtuosenfahrt also, wie ich sie von Zeit zu Zeit nicht ungern unternehme. Man repräsentiert, man tritt auf, man zeigt sich der jauchzenden Menge; man ist nicht umsonst ein Untertan Wilhelms II.“
Schon vor der Abfahrt geraten einige typische Vertreter dieses wilhelminischen Deutschlands ins Visier. Dazu zählt neben dem sogenannten „Herrn“ mit Hund vor allem die Person des Schaffners, wie sich sofort zeigt, als diese Personifikation des Staates, eine alte Frau anherrscht, die „um ein Haar in die zweite Klasse gestiegen wäre.“ Und nachdem das Unglück geschehen ist, sieht sich nicht nur der Erzähler geschlagen. Auch „Vater Staat“ und seine Repräsentanten sind auf dem Tiefpunkt: „Ein Beamter läuft ohne Mütze den Zug entlang [...] und wild und weinerlich erteilt er Befehle an die Passagiere, um sie in Zucht zu halten [...] Aber niemand achtet sein, da er ohne Mütze und Haltung ist.“ Und der unwirsche Schaffner jammert ebenfalls selbstmitleidig vor sich hin. „Er hinkt gebückt, die eine Hand auf sein Knie gestützt, und kümmert sich um nichts als um dieses sein Knie.“
Auch dort, wo die Staatsbeamten Positives leisten, bleibt das Lob nicht ohne Ironie. Der Zugführer hatte „sich brav benommen“ und großem Unglücke vorgebeugt, indem er im letzten Augenblick die Notbremse gezogen hatte: „Preiswürd’ger Zugführer!“ Als man endlich in den Ersatzzug umsteigen darf, heißt es, die „Majestät des Unglücks“ habe für einen „großen Ausgleich“ gesorgt, nämlich für „Kommunismus“, wie der Herr mit dem Hund beklagt. Die Trennung in Klassen ist vorübergehend aufgehoben.
In leichtem und ironischem Ton erzählt Thomas Mann von dieser „Entgleisung“, die den Staat Wilhelms II. kurzfristig sein Gesicht gekostet hat. Am Schluss nimmt der Erzähler den schnurrigen, gespielt unprofessionellen Ton der Einleitung wieder auf: „Ja, das war das Eisenbahnunglück, das ich erlebte. Einmal musste es ja wohl sein. Und obgleich die Logiker Einwände machen, glaube ich nun doch gute Chancen zu haben, dass mir so bald nicht wieder dergleichen begegnet.“
Hintergrund
Die Erzählung basiert auf einer wahren Begebenheit. Thomas Mann hatte den Eisenbahnunfall von Regenstauf am 1. Mai 1906 als Fahrgast miterlebt. Ein weiteres Eisenbahnunglück ist ihm, ganz wie am Schluss prophezeit, erspart geblieben. Doch die Auflösung der wilhelminischen Ordnung am Vorabend des Ersten Weltkriegs schilderte er wenige Jahre später in Der Zauberberg. Angst vor dem Verlust von Manuskripten durchlebte Thomas Mann 1933 noch ein zweites Mal infolge der abrupten Emigration. Seine Tagebücher und andere Manuskripte waren in München geblieben. Golo Mann hat sie aber dann doch noch ins Schweizer Exil schicken können.
Literatur
- Rainer Ehm: Das Eisenbahnunglück von Thomas Mann: Keine erfundene Erzählung, sondern Wirklichkeit. in: Mittelbayerische Zeitung 101, 28./29. April 1990
- Rolf Füllmann: Eisenbahnunglücke: Technik als Schicksal auf Schienen in Novellen von Wilhelm Schäfer, Paul Ernst und Thomas Mann. – In: Inklings-Jahrbuch für Literatur und Ästhetik, Hg. v. Dieter Petzold, Bd. 25 (2007), S. 185–211
- Rudolf Kanzler, Thomas Mann: Das Eisenbahnunglück. In: Rudolf Kanzler, Interpretationen zeitgenössischer Kurzgeschichten, Bd. 7, Hollfeld 1978, S. 39–46
- Paul Ludwig Sauer, Der „hinkende Staat“. Über einen „Schmarren“ Thomas Manns, genannt Das Eisenbahnunglück, in: Heinz Röllecke und Lothar Bluhm (Hg.), „Weil ich finde, dass man sich nicht ‚entziehen’ soll“. Gesammelte Aufsätze zu Thomas Mann und seinem Werk (Wirkendes Wort, Sonderband), ISBN 3-88476-451-9
- Thomas Rütten, Thomas Mann und das Krankheitsstigma der Moderne. Das Eisenbahnunglück von 1906 und Das Eisenbahnunglück von 1909. – In: Schriften des Ortsvereins BonnKöln der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft. 8, 2013, S. 5–41
Einzelnachweise
- Digitalisat der Neuen Freien Presse vom 6. Januar 1909 in der Österreichischen Nationalbibliothek.
- Digitalisat der Neuen Freien Presse vom 3. Mai 1906 in der Österreichischen Nationalbibliothek.
- Digitalisat des Prager Tagblatts vom 4. Mai 1906 in der Österreichischen Nationalbibliothek.
Autor: www.NiNa.Az
Veröffentlichungsdatum:
wikipedia, wiki, deutsches, deutschland, buch, bücher, bibliothek artikel lesen, herunterladen kostenlos kostenloser herunterladen, MP3, Video, MP4, 3GP, JPG, JPEG, GIF, PNG, Bild, Musik, Lied, Film, Buch, Spiel, Spiele, Mobiltelefon, Mobil, Telefon, android, ios, apple, samsung, iphone, xiomi, xiaomi, redmi, honor, oppo, nokia, sonya, mi, pc, web, computer, komputer, Informationen zu Das Eisenbahnunglück, Was ist Das Eisenbahnunglück? Was bedeutet Das Eisenbahnunglück?
Das Eisenbahnungluck ist eine Novelle von Thomas Mann Sie erschien erstmals am 6 Januar 1909 in der Neuen Freien Presse Wien Die erste Buchveroffentlichung erfolgte im gleichen Jahr in Der kleine Herr Friedemann und andere Novellen Fischers Bibliothek zeitgenossischer Romane Jg 1 Bd 6 1922 wurde Das Eisenbahnungluck in Novellen Bd I und 1958 in die Stockholmer Gesamtausgabe der Werke Thomas Manns aufgenommen Es existieren auch Tonaufnahmen dieser Erzahlung unter anderem von Thomas Mann selbst und von Loriot InhaltDer Erzahler ein Schriftsteller berichtet von einem Eisenbahnunfall den er zwei Jahre zuvor miterlebte Von Munchen aus sei er zu einem Vortrag mit dem Nachtzug nach Dresden gefahren erster Klasse denn die Reisekosten seien ihm erstattet worden Beim Einsteigen fallt ihm unter anderem ein selbstgefalliger Monokeltrager mit Gamaschen und trotzig aufgesetztem Schnurrbart auf Der ist anders als der Erzahler weit entfernt vom Reisefieber das sieht man klar fur ihn ist etwas so Gewohnliches wie eine Abreise kein Abenteuer Er ist zu Hause im Leben und ohne Scheu vor seinen Einrichtungen und Gewalten er selbst gehort zu diesen Gewalten mit einem Worte ein Herr Ich kann mich nicht satt an ihm sehen Prompt nimmt er sich in einem unbeobachteten Augenblick die Freiheit seinen Hund eine hubsche kleine Dogge mit silbernem Halsband und farbig geflochtener Lederleine verbotenerweise mit ins Schlafwagenabteil zu nehmen Der Schaffner ein martialischer Mensch mit gewaltigem Wachtmeisterschnauzbart und unwirsch wachsamem Blick man verkehrt nicht gern mit ihm er ist streng er ist wohl gar rauh aber Verlass Verlass ist auf ihn behandelt den Herrn mit grosser Unterwurfigkeit Ein altes Mutterchen jedoch das um ein Haar in die zweite Klasse gestiegen ware wird von ihm angeherrscht und grob zurechtgewiesen Zu Thomas Manns Zeiten gab es nicht nur Waggons erster und zweiter sondern auch dritter und vierter Klasse In letzterer fahrt beispielsweise Felix Krull von Frankfurt nach Wiesbaden zur Musterung Der Nachtzug setzt sich in Bewegung Die meisten Passagiere haben sich zur Ruhe begeben Der Erzahler liest noch ein wenig in seiner Reiselekture dann will auch er sich bettfertig machen da passiert es Ein gewaltiger Stoss ein wildes Schlenkern des Waggons dann ein Krachen und der Zug steht Nach einem Augenblick schockierter Stille bricht Panik aus Den vorher noch so selbstbewussten Doggenbesitzer hort man um Hilfe schreien dann bricht er in seidenem Schlafanzug aus seinem Abteil hervor und steht da mit irren Blicken Grosser Gott sagt er Allmachtiger Gott Und um sich ganzlich zu demutigen und so vielleicht seine Vernichtung abzuwenden sagt er auch noch in bitterem Tone Lieber Gott Dann greift er zur Selbsthilfe versucht zunachst die Rettungswerkzeuge im Wagen zu erreichen und springt als dies nicht gleich gelingt auf den Bahndamm Die ubrigen Fahrgaste scharen sich hilfesuchend um den Schlafwagenkondukteur Aber dieser lasst seine amtliche Sachlichkeit dahinfahren und ist genauso fassungslos wie die Reisenden Schliesslich verlassen alle den Schlafwagen und versuchen sich ein Bild der Lage zu machen Der Zug ist wegen einer falsch gestellten Weiche auf einen haltenden Guterzug aufgefahren Menschenverluste sind nicht zu beklagen doch so heisst es die grosse Schnellzugsmaschine von Maffei in Munchen sei hin und entzwei und auch der Gepackwagen sei zertrummert in dem sich auch das unersetzliche Manuskript des Schriftstellers befindet an dem er bereits seit Jahren arbeitet Identifiziert man den Reisenden mit dem Autor Thomas Mann so handelt es sich hier um das Manuskript des Romans Konigliche Hoheit Ein junger Mann der den Gepackwagen angeblich gesehen hat macht Ausserungen die das Schlimmste befurchten lassen Da stand ich berichtet der Erzahler Ganz fur mich allein stand ich in der Nacht zwischen den Schienenstrangen und prufte mein Herz Was wurde er tun wenn seine Niederschrift fur immer verloren ware Er wurde die Arbeit wohl oder ubel wieder ganz von vorn anfangen mussen Nun da der Reisende sich auf sich selbst besinnt und an einen Neubeginn denkt fangen auch die offiziellen Stellen wieder an zu funktionieren Die Feuerwehr trifft ein es stellt sich heraus dass alles halb so schlimm und das Manuskript ebenso wenig wie der Gepackwagen zerstort ist Die Passagiere konnen in einem Ersatzzug weiterreisen Die Majestat des Unglucks hat fur eine tolle Lage gesorgt namlich fur Kommunismus wie der Herr mit der kleinen Dogge beklagt Die Trennung in Klassen ist vorubergehend aufgehoben Das alte Mutterchen in Munchen noch angeherrscht fahrt jetzt wie der Monokeltrager in der ersten Klasse Wohlbehalten wird man mit dreistundiger Verspatung in Dresden ankommen Nur das Schosshundchen sitzt allen Herrenrechten zuwider in einem finsteren Verlies gleich hinter der Lokomotive und heult Form Etwas erzahlen Aber ich weiss nichts Gut also ich werde etwas erzahlen Bereits diese Einleitung zeigt die Tendenz des Erzahlers seine eigene Rolle herunterzuspielen Spater wird er sich uber den als ausserst schmerzlich empfundenen Verlust seines angeblich vernichteten Manuskripts mit Selbstironie hinwegzutrosten versuchen Da stand ich Ganz fur mich allein stand ich in der Nacht zwischen den Schienenstrangen und prufte mein Herz Raumungsarbeiten Es sollten Raumungsarbeiten mit meinem Manuskript vorgenommen werden Zerstort also zerfetzt zerquetscht wahrscheinlich Mein Bienenstock mein Kunstgespinst mein kluger Fuchsbau mein Stolz und sic Muhsal das Beste von mir Gleichzeitig dagegen lasst Thomas Mann in seiner Einleitung auch schon die Ironisierung des Obrigkeitsstaates anklingen die den gesamten Text durchzieht und den eigentlichen Tenor der Geschichte bestimmt Eine Kunst und Virtuosenfahrt also wie ich sie von Zeit zu Zeit nicht ungern unternehme Man reprasentiert man tritt auf man zeigt sich der jauchzenden Menge man ist nicht umsonst ein Untertan Wilhelms II Schon vor der Abfahrt geraten einige typische Vertreter dieses wilhelminischen Deutschlands ins Visier Dazu zahlt neben dem sogenannten Herrn mit Hund vor allem die Person des Schaffners wie sich sofort zeigt als diese Personifikation des Staates eine alte Frau anherrscht die um ein Haar in die zweite Klasse gestiegen ware Und nachdem das Ungluck geschehen ist sieht sich nicht nur der Erzahler geschlagen Auch Vater Staat und seine Reprasentanten sind auf dem Tiefpunkt Ein Beamter lauft ohne Mutze den Zug entlang und wild und weinerlich erteilt er Befehle an die Passagiere um sie in Zucht zu halten Aber niemand achtet sein da er ohne Mutze und Haltung ist Und der unwirsche Schaffner jammert ebenfalls selbstmitleidig vor sich hin Er hinkt gebuckt die eine Hand auf sein Knie gestutzt und kummert sich um nichts als um dieses sein Knie Auch dort wo die Staatsbeamten Positives leisten bleibt das Lob nicht ohne Ironie Der Zugfuhrer hatte sich brav benommen und grossem Unglucke vorgebeugt indem er im letzten Augenblick die Notbremse gezogen hatte Preiswurd ger Zugfuhrer Als man endlich in den Ersatzzug umsteigen darf heisst es die Majestat des Unglucks habe fur einen grossen Ausgleich gesorgt namlich fur Kommunismus wie der Herr mit dem Hund beklagt Die Trennung in Klassen ist vorubergehend aufgehoben In leichtem und ironischem Ton erzahlt Thomas Mann von dieser Entgleisung die den Staat Wilhelms II kurzfristig sein Gesicht gekostet hat Am Schluss nimmt der Erzahler den schnurrigen gespielt unprofessionellen Ton der Einleitung wieder auf Ja das war das Eisenbahnungluck das ich erlebte Einmal musste es ja wohl sein Und obgleich die Logiker Einwande machen glaube ich nun doch gute Chancen zu haben dass mir so bald nicht wieder dergleichen begegnet HintergrundDie Erzahlung basiert auf einer wahren Begebenheit Thomas Mann hatte den Eisenbahnunfall von Regenstauf am 1 Mai 1906 als Fahrgast miterlebt Ein weiteres Eisenbahnungluck ist ihm ganz wie am Schluss prophezeit erspart geblieben Doch die Auflosung der wilhelminischen Ordnung am Vorabend des Ersten Weltkriegs schilderte er wenige Jahre spater in Der Zauberberg Angst vor dem Verlust von Manuskripten durchlebte Thomas Mann 1933 noch ein zweites Mal infolge der abrupten Emigration Seine Tagebucher und andere Manuskripte waren in Munchen geblieben Golo Mann hat sie aber dann doch noch ins Schweizer Exil schicken konnen LiteraturRainer Ehm Das Eisenbahnungluck von Thomas Mann Keine erfundene Erzahlung sondern Wirklichkeit in Mittelbayerische Zeitung 101 28 29 April 1990 Rolf Fullmann Eisenbahnunglucke Technik als Schicksal auf Schienen in Novellen von Wilhelm Schafer Paul Ernst und Thomas Mann In Inklings Jahrbuch fur Literatur und Asthetik Hg v Dieter Petzold Bd 25 2007 S 185 211 Rudolf Kanzler Thomas Mann Das Eisenbahnungluck In Rudolf Kanzler Interpretationen zeitgenossischer Kurzgeschichten Bd 7 Hollfeld 1978 S 39 46 Paul Ludwig Sauer Der hinkende Staat Uber einen Schmarren Thomas Manns genannt Das Eisenbahnungluck in Heinz Rollecke und Lothar Bluhm Hg Weil ich finde dass man sich nicht entziehen soll Gesammelte Aufsatze zu Thomas Mann und seinem Werk Wirkendes Wort Sonderband ISBN 3 88476 451 9 Thomas Rutten Thomas Mann und das Krankheitsstigma der Moderne Das Eisenbahnungluck von 1906 und Das Eisenbahnungluck von 1909 In Schriften des Ortsvereins BonnKoln der Deutschen Thomas Mann Gesellschaft 8 2013 S 5 41EinzelnachweiseDigitalisat der Neuen Freien Presse vom 6 Januar 1909 in der Osterreichischen Nationalbibliothek Digitalisat der Neuen Freien Presse vom 3 Mai 1906 in der Osterreichischen Nationalbibliothek Digitalisat des Prager Tagblatts vom 4 Mai 1906 in der Osterreichischen Nationalbibliothek Werke von Thomas Mann Romane Buddenbrooks Konigliche Hoheit Der Zauberberg Joseph und seine Bruder Tetralogie Lotte in Weimar Doktor Faustus Der Erwahlte Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull Erzahlungen Novellen Vision Gefallen Der Wille zum Gluck Enttauschung Der Tod Der kleine Herr Friedemann Der Bajazzo Tobias Mindernickel Der Kleiderschrank Geracht Luischen Der Weg zum Friedhof Gladius Dei Tonio Kroger Tristan Die Hungernden Das Wunderkind Ein Gluck Beim Propheten Schwere Stunde Anekdote Das Eisenbahnungluck Wie Jappe und Do Escobar sich prugelten Der Tod in Venedig Herr und Hund Gesang vom Kindchen Walsungenblut Unordnung und fruhes Leid Mario und der Zauberer Die vertauschten Kopfe Das Gesetz Die Betrogene Theaterstucke Fiorenza Luthers Hochzeit Fragment Einzelne Essays und Autobiographisches Versuch uber das Theater Die Losung der Judenfrage Gedanken im Kriege Betrachtungen eines Unpolitischen Zur judischen Frage Von deutscher Republik Uber die Lehre Spenglers Deutsche Ansprache Leiden und Grosse Richard Wagners Freud und die Zukunft Bruder Hitler Das Problem der Freiheit Deutsche Horer Deutschland und die Deutschen Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung Die Entstehung des Doktor Faustus Lob der Verganglichkeit Versuch uber Schiller Normdaten Werk GND 4457000 4 GND Explorer lobid OGND AKS