Unzuverlässiges Erzählen ist eine spezielle Form des Erzählens bei dem die Zuverlässigkeit das heißt zumeist die Wahrhei
Unzuverlässiges Erzählen

Unzuverlässiges Erzählen ist eine spezielle Form des Erzählens, bei dem die Zuverlässigkeit (das heißt zumeist: die Wahrheit oder Angemessenheit) der Erzähleraussagen über die erzählte Welt vom Rezipienten (Leser, Zuhörer, Zuschauer etc.) in Frage gestellt wird. Vereinfacht ausgedrückt: Es wird zunächst ein Geschehen erzählt, das, wie sich im weiteren Verlauf herausstellt, so nicht stattgefunden hat. Gründe dafür können beispielsweise sein, dass die erzählende Person die Handlung erträumt, im Drogenrausch erlebt oder schlichtweg erfunden hat, etwa um ein Alibi zu erhalten.
Erzählungen, die sich dieses Verfahrens bedienen, bringen oftmals einen homodiegetischen Erzähler (eine Erzählerfigur, die Teil der erzählten Welt ist) zum Einsatz, zuweilen aber auch einen heterodiegetischen Erzähler. In historischer Perspektive gilt unzuverlässiges Erzählen als typisches Stilmerkmal der Romane und Erzählungen der Romantik. In Romanen der Postmoderne taucht es ebenfalls häufiger auf.
Konzeptualisierungsvorschläge
Einführende Erläuterungen
Narrativen Konventionen entsprechend genießen Aussagen eines Erzählers Priorität gegenüber den Aussagen einer Figur, sofern sich Figuren- und Erzählerbericht widersprechen. Wenn beispielsweise Don Quijote behauptet, er sehe Riesen, der Erzähler zuvor aber erläutert hat, dass Don Quijote vor Windmühlen steht, glaubt der Leser in der Regel dem Erzähler und nicht der Figur. Hingegen müssen bei einem unzuverlässigen Erzähler dessen Aussagen über die erzählte Welt, zumindest teilweise, als falsch bewertet werden. Der privilegierte Wahrheitsanspruch, über den der Erzähler ›üblicherweise‹ verfügt, muss hier also eingeschränkt werden. Die Unzuverlässigkeit des Erzählers kann zu Beginn der Geschichte offengelegt werden oder sich am Ende durch eine unerwartete Wendung (Twist) herausstellen. Das Kommunikat zwischen Autor und Leser wird hier verdoppelt in eine explizite und eine implizite Botschaft, ähnlich wie bei der Ironie. Der unzuverlässige Erzähler vermittelt also die explizite Botschaft, während der (implizite) Autor am Erzähler vorbei die implizite und eigentlich gemeinte Botschaft vermittelt.
Die Motivationen der Erzählerfigur für das unzuverlässige Erzählen können psychische Störungen, Voreingenommenheit oder Unwissenheit sein, ebenso aber auch der bewusste Versuch, den Leser zu täuschen.
Die Begriffsprägung durch Wayne C. Booth und nachfolgende Kritik
Obwohl diese Art des Erzählens bereits in der antiken Romanliteratur zu finden ist (Wahre Geschichten, Lukian von Samosata, um 180, oder Metamorphosen, Apuleius, um 170), wurde der Begriff zum ersten Mal 1961 durch den amerikanischen Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth in die literaturkritische und erzähltheoretische Diskussion eingeführt:
“I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say the implied author’s norms), unreliable when he does not.”
„Ich habe einen Erzähler zuverlässig genannt, wenn er für die Normen des Werks spricht oder ihnen gemäß handelt (sprich die Normen des impliziten Autors), unzuverlässig, wenn nicht.“
Booths Begriffsprägung (englisch unreliable narrator vs. reliable narrator) kritisieren neuere narratologische Ansätze vor allem wegen ihrer definitorischen Unschärfe und ihrer Bezugnahme auf das ebenfalls umstrittene Konzept des impliziten Autors, der weder mit dem Erzähler noch dem Autor identisch sei, sondern eine Zwischenposition einnehme. Dieser implizite Autor vermittle, so die Vertreter dieser Theorie, das eigentlich Gemeinte am Erzähler vorbei an den (impliziten) Leser, wodurch erst die doppelte Kommunikation entstehe. Bestreitet man dagegen – wie vielfach in der kontemporären narratologischen Forschung – die literaturwissenschaftliche Operationalisierbarkeit der Instanz des implied author, so wird auch Booths Bestimmung des unzuverlässigen Erzählers unbrauchbar.
und Meister (2016) arbeiten drei fundamentale Formen des „unzuverlässigen Erzählens“ heraus:
- Die „mimetische Unzuverlässigkeit“, die auftritt, wenn Angaben über Handlungsabläufe (das Zusammenwirken der Figuren, Angaben über Ort und Zeit) sowie Angaben über die konkrete Beschaffenheit der „erzählten Welt“ widersprüchlich, dubios oder gar unzutreffend sind.
- Die „theoretische Unzuverlässigkeit“, die vorliegt, wenn Aussagen des Erzählers zu allgemeinen Sachverhalten unangemessen oder unzutreffend sind.
- Die „evaluative Unzuverlässigkeit“, die dann gegeben ist, wenn Einschätzungen und Bewertungen des Erzählers, die sich auf die jeweils entworfene „erzählte Welt“ beziehen (Handlungselemente, Figuren etc.) nicht plausibel zu überzeugen vermögen.
Unter „erzählter Welt“ wird ein anschaulich präsentierter fiktionaler Handlungsraum für Ereignisse und Figuren verstanden.
Kognitive Theorien
Während die Theorieangebote im Gefolge Booths (Un-)Zuverlässigkeit als manifeste Eigenschaft des narrativen Diskurses oder der Erzählinstanz selbst analysieren, fassen kognitive Ansätze die Zuschreibung von (Un-)Zuverlässigkeit demgegenüber als Rationalisierungsstrategie eines (realen, nicht impliziten) Lesers auf, der Widersprüche, Inkohärenzen oder auch stilistische Auffälligkeiten (beispielsweise eines ausgiebig von Hyperbeln, Interjektionen oder übermäßigen Wahrheitsbeteuerungen Gebrauch machenden Ich-Erzählers) dadurch naturalisiert, das heißt auflöst und verstehbar macht, dass er den Erzähler selbst als unzuverlässig einstuft. Alternativ können Inkonsistenzen mitunter auch durch Verweis auf die Nachlässigkeit des (realen) Autors (prominentes Beispiel: Kleists Die Verlobung in St. Domingo, deren Protagonist zuerst Gustav, später August heißt – was man in der Forschung meistens als bloßen fauxpas des Autors wertete) oder auf generische Besonderheiten erklärt werden. Erst das Zusammenspiel von textuellen Unzuverlässigkeitssignalen und Interpretationsverfahren des Lesers erlaubt es, gemäß kognitivem Ansatz, das Phänomen ›Unzuverlässigkeit‹ angemessen zu begreifen: »Das bedeutet, dass ein Erzähler nicht an sich unglaubwürdig ›ist‹, sondern dass es sich dabei um eine Feststellung des Betrachters handelt, die historisch, kulturell und letztlich sogar individuell stark variieren kann.«
Pragmatische Theorien
Den Relativismus-Vorwurf, der auf die wissenschaftliche Unbrauchbarkeit einer Analysekategorie abhebt, die gemäß ihrer historisch-kulturellen Variabilität womöglich geradezu willkürlichen Zuschreibungen unterliegt, umgehen – im Gegensatz zu ihren kognitiven Konkurrenten – pragmatische Ansätze, die Unzuverlässigkeit als Verletzung klar benennbarer Maximen rationaler Kommunikation begreifen. Wenn ein Erzähler etwa seine ›Gesprächsbeiträge‹ informativer als nötig macht, unklar oder mehrdeutig spricht oder im jeweiligen Zusammenhang gänzlich Irrelevantes berichtet, und dies zugleich nicht mit der Absicht geschieht, eine Implikatur auszulösen (wie es beispielsweise bei einem ironischen Erzähler der Fall sein könnte), so muss er als unzuverlässig angesehen werden. Er verletzt also nicht nur die Konversationsmaximen, sondern zugleich das Kooperationsprinzip, dessen Einhaltung für Erzähler fiktionaler Geschichten deshalb genauso bindend ist wie etwa für faktuales Erzählen in Alltagskontexten, weil auch hier die ›Erzählbarkeit‹ (»tellability«) einer Geschichte erst nachgewiesen werden muss. Die Missachtung des Kooperationsprinzips unterminiert dagegen den Sinn und Zweck des Erzählens überhaupt, indem sie eine kohärente, ›erzählbare‹ Geschichte verhindert und auf Leserseite nichts als ein ratloses »Na und?« provoziert.
Typen
Martínez und Scheffel unterscheiden drei Typen des unzuverlässigen Erzählers:
Theoretisch unzuverlässiges Erzählen
Während die mimetischen, das heißt deskriptiven, Aussagen des Erzählers, die beschreiben, was in der fiktiven Welt der Fall ist, als wahr gelten dürfen, sind seine theoretischen Äußerungen, seine Bewertungen, Geschmacksurteile, ethischen Kommentare etc. als unzuverlässig zu verstehen. So wird in Thomas Manns Doktor Faustus die Geschichte des dämonischen Komponisten Adrian Leverkühn von dem humanistisch eingestellten Ich-Erzähler Dr. phil. Serenus Zeitblom vermittelt. Die philosophische und moralische Dimension seiner Schilderung entzieht sich ihm selbst ganz offensichtlich. Seinen Aussagen über den Hergang der Geschichte können wir also glauben, nicht aber seiner Einschätzung und Bewertung.
Mimetisch teilweise unzuverlässiges Erzählen
Hier können sowohl die mimetischen als auch die theoretischen Aussagen falsch bzw. irreführend sein. Ein Beispiel ist der Roman Zwischen neun und neun von Leo Perutz. Er erzählt von einem Wiener Studenten, der bei der Flucht vor der Polizei um neun Uhr morgens von einem Hausdach springt und sich so rettet. Er irrt durch Wien, übersteht einige kritische Verfolgungssituationen und wird gegen neun Uhr abends dann von der Polizei gestellt. Hier versucht er wieder sich durch einen Sprung vom Dach zu retten, überlebt diesen Sprung jedoch nicht. Als die Polizisten ihn dann finden, ist es immer noch neun Uhr morgens, und es stellt sich heraus, dass die ganze Geschichte zwischen dem ersten und dem zweiten Sprung der Phantasie des sterbenden Studenten entsprungen war. Die erzählte Zeit beträgt also nicht zwölf Stunden, sondern nur wenige Minuten. Der Leser akzeptiert diese rückwirkende Umdeutung, weil sich sonst ein unauflöslicher Widerspruch zwischen dem Hauptteil und dem Ende des Romans ergäbe.
Mimetisch unentscheidbares Erzählen
Im Gegensatz zu den anderen beiden Beispielen gibt es beim mimetisch unentscheidbaren Erzählen keine stabile und eindeutig bestimmbare erzählte Welt hinter der Rede des Erzählers. Somit lässt sich auch nicht in Bezug auf diese Welt entscheiden, welche Aussagen des Erzählers als unzuverlässig abzuheben sind. Besonders die Texte der Moderne und Postmoderne lösen diesen festen Bezugspunkt auf, sodass der Eindruck der Unzuverlässigkeit nicht nur teilweise und vorübergehend entsteht, sondern für den ganzen Text gelten kann. Es stellt sich eine grundsätzliche Unentscheidbarkeit darüber ein, was in der erzählten Welt tatsächlich der Fall ist. Als klassisches Beispiel für diese Art des Erzählens gelten die nouveaux romans von Alain Robbe-Grillet. Während aber bei Robbe-Grillet Szenen aneinandergereiht und nicht durch ein wahrnehmendes Bewusstsein kommentiert oder gefiltert werden (externe Fokalisierung), kann genauso eine extreme, interne Fokalisierung zum mimetisch unentscheidbaren Erzählen gehören. Ein Beispiel hierfür ist der Roman Wie es ist von Samuel Beckett. Er besteht aus bruchstückhaften Sätzen und Satzteilen, die sich nicht einmal mehr zu einem Bewusstseinsstrom zusammensetzen lassen. Er wird nicht durch die Logik einer Handlung, sondern durch Wiederholungen bestimmter Namen, Ereignisse und Themen strukturiert, eine stabile und eindeutige erzählte Welt lässt sich nicht rekonstruieren.
Beispiele
Zu den folgenden Beispielen wird in den jeweiligen Artikeln der Einsatz des unzuverlässigen Erzählens genauer ausgeführt.
Literatur
- Ambrose Bierce: An Occurrence at Owl Creek Bridge
- Agatha Christie: Alibi
- Mark Z. Danielewski: Das Haus – House of Leaves
- Bret Easton Ellis: American Psycho
- Max Frisch: Stiller
- Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrigblieb
- Henry James: The Turn of the Screw
- Christian Kracht: Faserland,Die Toten
- Alice Munro: Freundin aus meiner Jugendzeit,
- Vladimir Nabokov: Lolita
- Chuck Palahniuk: Fight Club
- Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages
- Edgar Allan Poe: Das verräterische Herz, Der schwarze Kater
- Christian Reuter: Schelmuffsky
Film
- Die üblichen Verdächtigen
- Fight Club
- Mulholland Drive – Straße der Finsternis
- Rashomon – Das Lustwäldchen
- The Sixth Sense
- Wild Things
Spiele
- Final Fantasy VII
Literatur
- 1961: Wayne C. Booth: Rhetoric of Fiction. University of Chicago Press, Chicago 1961.
- 1981: Félix Martínez-Bonati: Fictive Discourse and the Structures of Literature. A Phenomenological Approach. Cornell University Press, Ithaca und London 1981.
- 1981: Tamar Yacobi: Fictional Reliability as a Communicative Problem. Poetics Today 2, 1981, S. 113–126.
- 1998: Ansgar Nünning (Hrsg.): Unreliable narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. WVT – Wissenschaftlicher Verlag, Trier 1998, ISBN 3-88476-316-4.
- 1999: Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erweiterte Auflage. Beck, München 2012 (Erstausgabe 1999), ISBN 978-3-406-47130-8.
- 2000: Dorrit Cohn: Discordant Narration. Style 34, 2000, S. 307–316.
- 2004: Dieter Meindl: (Un)reliable Narration from a Pronominal Perspective. In: The Dynamics of Narrative Form: Studies in Anglo-American Narratology. Walter de Gruyter, Berlin 2004.
- 2005: Ansgar Nünning: Reconceptualizing Unreliable Narration: Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches. In: James Phelan, Peter J. Rabinowitz (Hrsg.): A Companion to Narrative Theory. (= Blackwell Companions to Literature and Culture. Band 33). Blackwell, Oxford 2005, S. 89–107.
- 2005: Fabienne Liptay, Yvonne Wolf (Hrsg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. edition text + kritik, München 2005, ISBN 978-3-88377-795-5.
- 2006: Jörg Helbig (Hrsg.): „Camera doesn’t lie“: Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. WVT – Wissenschaftlicher Verlag, Trier 2006, ISBN 978-3-88476-842-6 (= Focal point, Band 4).
- 2006: Monika Fludernik: Erzähltheorie, eine Einführung. 4. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013 (Erstausgabe 2006 als Einführung in die Erzähltheorie), ISBN 978-3-534-29920-1.
- 2006: Theresa Heyd: Understanding and handling unreliable narratives. In: Semiotica. Band 162, 2006, S. 217–243.
- 2008: Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Niemeyer, Tübingen 2008, ISBN 978-3-484-18184-7 (= Studien zur deutschen Literatur, Band 184, zugleich Dissertation Universität Hamburg 2001).
- 2009: Susanne Kaul, Jean-Pierre Palmier, Timo Skrandies (Hrsg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Transcript, Bielefeld 2009, ISBN 978-3-8376-1134-2 (= Medien – Kultur – Analyse, Band 6).
- 2010: Michaela Krützen: Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood. Fischer, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-10-040503-6, S. 159–201.
- 2011: Poul Behrendt, Per Krogh Hansen: The Fifth Mode of Representation: Ambiguous Voices in Unreliable Third Person Narration. In: Strange voices in narrative fiction. Per Krogh Hansen, Stefan Iversen, Henrik Skov Nielsen und Rolf Reitan, de Gruyter, Berlin 2011, ISBN 978-3-11-026857-7 (Inhaltsverzeichnis), S. 219–251.
- 2014: Jean-Pierre Palmier: Gefühlte Geschichten. Unentscheidbares Erzählen und emotionales Erleben. Fink, München 2014, ISBN 978-3-7705-5581-9.
- 2015: Bernd Leiendecker: „They Only See What They Want to See“. Geschichte des unzuverlässigen Erzählens im Spielfilm, Schüren, Marburg 2015, ISBN 978-3-89472-908-0 (= Marburger Schriften zur Medienforschung, Band 55, zugleich Dissertation Universität Bochum).
- 2021: Matthias Aumüller, Tom Kindt (Hrsg.): Der deutschsprachige Nachkriegsroman und die Tradition des unzuverlässigen Erzählens. Stuttgart: Metzler, 2021. Open Access: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-476-05764-8.
- 2023: Matthias Aumüller: Unzuverlässiges Erzählen. Studien zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Mit einem Kapitel von Tom Kindt, Dana Kissling und Victor Lindblom. Stuttgart: Metzler, 2023. Open Access: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-67047-7.
Weblinks
- Eintrag im Lexikon der Filmbegriffe
- Daniel Stein: Unzuverlässiges Erzählen in Comicserien. – Veröffentlicht am 28. März 2013 auf: Gesellschaft für Comicforschung
- Eintrag im Fachlexikon der Kinder- und Jugendliteratur
Einzelnachweise
- Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. C. H. Beck, München 1999, ISBN 3-406-44052-5. (11., erweiterte und aktualisierte Auflage 2019, S. 101; 106)
- Wayne C. Booth: Rhetoric of Fiction. University of Chicago Press, Chicago 1961, S. 158 f.
- Vgl. exemplarisch Ansgar Nünning: Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Band 67 (1993), S. 1–25.
- Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. J.B. Metzler, Stuttgart 2008. (3., aktual. Auflage. 2016), ISBN 978-3-476-02598-2, S. 189–190; 206.
- Vgl. Ansgar Nünning: Reconceptualizing Unreliable Narration: Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches. In: James Phelan, Peter J. Rabinowitz (Hrsg.): A Companion to Narrative Theory. (Blackwell Companions to Literature and Culture, Band 33) Blackwell, Oxford 2005, S. 89–107 und Tamar Yacobi: Fictional Reliability as a Communicative Problem. Poetics Today 2, 1981, S. 113–126.
- Tamar Yacobi unterscheidet vier Naturalisierungsstrategien: ›genetic‹, ›generic‹, ›existential‹, ›functional‹ und ›perspectival‹, vgl. Tamar Yacobi: Fictional Reliability as a Communicative Problem. Poetics Today 2, 1981, S. 113–126.
- Ansgar Nünning: Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Unreliable narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Wiss. Verlag, Trier 1998, S. 3–39, hier S. 25.
- Vgl. Theresa Heyd: Understanding and handling unreliable narratives. Semiotica 162, 2006, S. 217–243; Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. (Studien zur deutschen Literatur, Band 184), Niemeyer, Tübingen 2008.
- Vgl. Theresa Heyd: Understanding and handling unreliable narratives. Semiotica 162, 2006, S. 224.
- Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. Beck, München 2006.
- Vera Nünning: Conceptualising (Un)reliable Narration and (Un)trustworthiness. In: dieselbe (Hrsg.): Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives. Walter de Gruyter, Berlin/München/Boston 2015, ISBN 978-3-11-040810-2, S. 1–30, hier S. 12 f.
- Andreas Ohme: Skaz und Unreliable Narration. Entwurf einer neuen Typologie des Erzählers. Walter de Gruyter, Berlin 2015, ISBN 3-11-040389-7, S. 137 ff.
- Hubert Zapf, Timo Müller: Amerikanische Literaturgeschichte. Springer, Berlin 2024, ISBN 978-3-662-68061-2, S. 597.
- Robert Vogt: Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2018, ISBN 978-3-11-054852-5, S. 229–251.
- Victor Lindblom: Wer bin ich – und was kann ich dagegen tun? Fiktionale Wahrheit und mimetisch unzuverlässiges Erzählen in Max Frischs Stiller (1954). Kapitel aus Matthias Aumüller, Tom Kindt: Der deutschsprachige Nachkriegsroman und die Tradition des unzuverlässigen Erzählens. Metzler, Berlin 2021, ISBN 978-3-476-05763-1.
- Andreas Ohme: Skaz und Unreliable Narration. Entwurf einer neuen Typologie des Erzählers. Walter de Gruyter, Berlin 2015, ISBN 3-11-040389-7, S. 152–167.
- Robert Vogt: Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2018, ISBN 978-3-11-054852-5, S. 25.
- Michael Peter Hehl: Kracht, Christian: Faserland. Roman. In: Heribert Tommek, Matteo Galli, Achim Geisenhanslüke (Hrsg.): Wendejahr 1995. Transformationen der deutschsprachigen Literatur. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2015, ISBN 978-3-11-041996-2, S. 426–437, hier S. 427.
- Niels Werber: Krachts Pikareske. Faserland, neu gelesen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Band 44, Nr. 3, 1. September 2014, ISSN 0049-8653, S. 119–129, doi:10.1007/BF03379987 (springer.com [abgerufen am 12. Januar 2018]).
- Lynn Blin, Alice Munro’s Naughty Coordinators in “Friend of My Youth”, in: Journal of the Short Story in English (JSSE)/Les cahiers de la nouvelle, ISSN 0294-0442, n° 55 (Autumn 2010), Special issue: The Short Stories of Alice Munro.
- Natalia Stagl: Muse und Antimuse. Die Poetik Vladimir Nabokovs. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 139.
- Robert Vogt: Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2018, ISBN 978-3-11-054852-5, S. 272–291.
- Matthias Bauer: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung. Metzler, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-476-02079-6, S. 77.
- Rachel McCoppin: Horrific Obsessions: Poe’s Legacy of the Unreliable and Self-Obsessed Narrator. In: Dennis R. Perry, Carl H. Sederholm (Hrsg.): Adapting Poe. Re-Imaginings in Popular Culture. Palgrave MacMillan, New York 2012, ISBN 978-1-349-29898-3, S. 105–119, hier S. 105–108.
- Achim Aurnhammer, Nicolas Detering: Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit. Narr Francke Attempto, Tübingen 2019, ISBN 978-3-8252-5024-9, S. 291.
- Robert Vogt: Combining Possible-Worlds Theory and Cognitive Theory: Towards an Explanatory Model for Ironic-Unreliable Narration, Ironic-Unreliable Focalization, Ambiguous-Unreliable and Alterated-Unreliable Narration in Literary Fiction. In: Vera Nünning (Hrsg.): Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives. Walter de Gruyter, Berlin/München/Boston 2015, S. 131–154, hier S. 149.
- Emily R. Anderson: Telling Stories: Unreliable Discourse, Fight Club, and the Cinematic Narrator. In: Journal of Narrative Theory 40 (2010), Heft 1, S. 80–107.
- Dominik Orth: Lost in Lynchworld – Unzuverlässiges Erzählen in David Lynchs 'Lost Highway' und 'Mulholland Drive'. Ibidem, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-89821-478-0.
- Bo Petterson: Kinds of Unreliability in Fiction: Narratorial, Focal, Expositional and Combined. In: Vera Nünning (Hrsg.): Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives. Walter de Gruyter, Berlin/München/Boston 2015, S. 109–130, hier S. 118.
- Jeremy Parish: Dissecting Final Fantasy VII, Part 5 -- An RPG Gets Existential With Its Central Question: „Who Am I?“ In: USgamer. Abgerufen am 27. März 2017 (amerikanisches Englisch).
Autor: www.NiNa.Az
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Unzuverlassiges Erzahlen ist eine spezielle Form des Erzahlens bei dem die Zuverlassigkeit das heisst zumeist die Wahrheit oder Angemessenheit der Erzahleraussagen uber die erzahlte Welt vom Rezipienten Leser Zuhorer Zuschauer etc in Frage gestellt wird Vereinfacht ausgedruckt Es wird zunachst ein Geschehen erzahlt das wie sich im weiteren Verlauf herausstellt so nicht stattgefunden hat Grunde dafur konnen beispielsweise sein dass die erzahlende Person die Handlung ertraumt im Drogenrausch erlebt oder schlichtweg erfunden hat etwa um ein Alibi zu erhalten Erzahlungen die sich dieses Verfahrens bedienen bringen oftmals einen homodiegetischen Erzahler eine Erzahlerfigur die Teil der erzahlten Welt ist zum Einsatz zuweilen aber auch einen heterodiegetischen Erzahler In historischer Perspektive gilt unzuverlassiges Erzahlen als typisches Stilmerkmal der Romane und Erzahlungen der Romantik In Romanen der Postmoderne taucht es ebenfalls haufiger auf KonzeptualisierungsvorschlageEinfuhrende Erlauterungen Narrativen Konventionen entsprechend geniessen Aussagen eines Erzahlers Prioritat gegenuber den Aussagen einer Figur sofern sich Figuren und Erzahlerbericht widersprechen Wenn beispielsweise Don Quijote behauptet er sehe Riesen der Erzahler zuvor aber erlautert hat dass Don Quijote vor Windmuhlen steht glaubt der Leser in der Regel dem Erzahler und nicht der Figur Hingegen mussen bei einem unzuverlassigen Erzahler dessen Aussagen uber die erzahlte Welt zumindest teilweise als falsch bewertet werden Der privilegierte Wahrheitsanspruch uber den der Erzahler ublicherweise verfugt muss hier also eingeschrankt werden Die Unzuverlassigkeit des Erzahlers kann zu Beginn der Geschichte offengelegt werden oder sich am Ende durch eine unerwartete Wendung Twist herausstellen Das Kommunikat zwischen Autor und Leser wird hier verdoppelt in eine explizite und eine implizite Botschaft ahnlich wie bei der Ironie Der unzuverlassige Erzahler vermittelt also die explizite Botschaft wahrend der implizite Autor am Erzahler vorbei die implizite und eigentlich gemeinte Botschaft vermittelt Die Motivationen der Erzahlerfigur fur das unzuverlassige Erzahlen konnen psychische Storungen Voreingenommenheit oder Unwissenheit sein ebenso aber auch der bewusste Versuch den Leser zu tauschen Die Begriffspragung durch Wayne C Booth und nachfolgende Kritik Obwohl diese Art des Erzahlens bereits in der antiken Romanliteratur zu finden ist Wahre Geschichten Lukian von Samosata um 180 oder Metamorphosen Apuleius um 170 wurde der Begriff zum ersten Mal 1961 durch den amerikanischen Literaturwissenschaftler Wayne C Booth in die literaturkritische und erzahltheoretische Diskussion eingefuhrt I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work which is to say the implied author s norms unreliable when he does not Ich habe einen Erzahler zuverlassig genannt wenn er fur die Normen des Werks spricht oder ihnen gemass handelt sprich die Normen des impliziten Autors unzuverlassig wenn nicht Booths Begriffspragung englisch unreliable narrator vs reliable narrator kritisieren neuere narratologische Ansatze vor allem wegen ihrer definitorischen Unscharfe und ihrer Bezugnahme auf das ebenfalls umstrittene Konzept des impliziten Autors der weder mit dem Erzahler noch dem Autor identisch sei sondern eine Zwischenposition einnehme Dieser implizite Autor vermittle so die Vertreter dieser Theorie das eigentlich Gemeinte am Erzahler vorbei an den impliziten Leser wodurch erst die doppelte Kommunikation entstehe Bestreitet man dagegen wie vielfach in der kontemporaren narratologischen Forschung die literaturwissenschaftliche Operationalisierbarkeit der Instanz des implied author so wird auch Booths Bestimmung des unzuverlassigen Erzahlers unbrauchbar und Meister 2016 arbeiten drei fundamentale Formen des unzuverlassigen Erzahlens heraus Die mimetische Unzuverlassigkeit die auftritt wenn Angaben uber Handlungsablaufe das Zusammenwirken der Figuren Angaben uber Ort und Zeit sowie Angaben uber die konkrete Beschaffenheit der erzahlten Welt widerspruchlich dubios oder gar unzutreffend sind Die theoretische Unzuverlassigkeit die vorliegt wenn Aussagen des Erzahlers zu allgemeinen Sachverhalten unangemessen oder unzutreffend sind Die evaluative Unzuverlassigkeit die dann gegeben ist wenn Einschatzungen und Bewertungen des Erzahlers die sich auf die jeweils entworfene erzahlte Welt beziehen Handlungselemente Figuren etc nicht plausibel zu uberzeugen vermogen Unter erzahlter Welt wird ein anschaulich prasentierter fiktionaler Handlungsraum fur Ereignisse und Figuren verstanden Kognitive Theorien Wahrend die Theorieangebote im Gefolge Booths Un Zuverlassigkeit als manifeste Eigenschaft des narrativen Diskurses oder der Erzahlinstanz selbst analysieren fassen kognitive Ansatze die Zuschreibung von Un Zuverlassigkeit demgegenuber als Rationalisierungsstrategie eines realen nicht impliziten Lesers auf der Widerspruche Inkoharenzen oder auch stilistische Auffalligkeiten beispielsweise eines ausgiebig von Hyperbeln Interjektionen oder ubermassigen Wahrheitsbeteuerungen Gebrauch machenden Ich Erzahlers dadurch naturalisiert das heisst auflost und verstehbar macht dass er den Erzahler selbst als unzuverlassig einstuft Alternativ konnen Inkonsistenzen mitunter auch durch Verweis auf die Nachlassigkeit des realen Autors prominentes Beispiel Kleists Die Verlobung in St Domingo deren Protagonist zuerst Gustav spater August heisst was man in der Forschung meistens als blossen fauxpas des Autors wertete oder auf generische Besonderheiten erklart werden Erst das Zusammenspiel von textuellen Unzuverlassigkeitssignalen und Interpretationsverfahren des Lesers erlaubt es gemass kognitivem Ansatz das Phanomen Unzuverlassigkeit angemessen zu begreifen Das bedeutet dass ein Erzahler nicht an sich unglaubwurdig ist sondern dass es sich dabei um eine Feststellung des Betrachters handelt die historisch kulturell und letztlich sogar individuell stark variieren kann Pragmatische Theorien Den Relativismus Vorwurf der auf die wissenschaftliche Unbrauchbarkeit einer Analysekategorie abhebt die gemass ihrer historisch kulturellen Variabilitat womoglich geradezu willkurlichen Zuschreibungen unterliegt umgehen im Gegensatz zu ihren kognitiven Konkurrenten pragmatische Ansatze die Unzuverlassigkeit als Verletzung klar benennbarer Maximen rationaler Kommunikation begreifen Wenn ein Erzahler etwa seine Gesprachsbeitrage informativer als notig macht unklar oder mehrdeutig spricht oder im jeweiligen Zusammenhang ganzlich Irrelevantes berichtet und dies zugleich nicht mit der Absicht geschieht eine Implikatur auszulosen wie es beispielsweise bei einem ironischen Erzahler der Fall sein konnte so muss er als unzuverlassig angesehen werden Er verletzt also nicht nur die Konversationsmaximen sondern zugleich das Kooperationsprinzip dessen Einhaltung fur Erzahler fiktionaler Geschichten deshalb genauso bindend ist wie etwa fur faktuales Erzahlen in Alltagskontexten weil auch hier die Erzahlbarkeit tellability einer Geschichte erst nachgewiesen werden muss Die Missachtung des Kooperationsprinzips unterminiert dagegen den Sinn und Zweck des Erzahlens uberhaupt indem sie eine koharente erzahlbare Geschichte verhindert und auf Leserseite nichts als ein ratloses Na und provoziert TypenMartinez und Scheffel unterscheiden drei Typen des unzuverlassigen Erzahlers Theoretisch unzuverlassiges Erzahlen Wahrend die mimetischen das heisst deskriptiven Aussagen des Erzahlers die beschreiben was in der fiktiven Welt der Fall ist als wahr gelten durfen sind seine theoretischen Ausserungen seine Bewertungen Geschmacksurteile ethischen Kommentare etc als unzuverlassig zu verstehen So wird in Thomas Manns Doktor Faustus die Geschichte des damonischen Komponisten Adrian Leverkuhn von dem humanistisch eingestellten Ich Erzahler Dr phil Serenus Zeitblom vermittelt Die philosophische und moralische Dimension seiner Schilderung entzieht sich ihm selbst ganz offensichtlich Seinen Aussagen uber den Hergang der Geschichte konnen wir also glauben nicht aber seiner Einschatzung und Bewertung Mimetisch teilweise unzuverlassiges Erzahlen Hier konnen sowohl die mimetischen als auch die theoretischen Aussagen falsch bzw irrefuhrend sein Ein Beispiel ist der Roman Zwischen neun und neun von Leo Perutz Er erzahlt von einem Wiener Studenten der bei der Flucht vor der Polizei um neun Uhr morgens von einem Hausdach springt und sich so rettet Er irrt durch Wien ubersteht einige kritische Verfolgungssituationen und wird gegen neun Uhr abends dann von der Polizei gestellt Hier versucht er wieder sich durch einen Sprung vom Dach zu retten uberlebt diesen Sprung jedoch nicht Als die Polizisten ihn dann finden ist es immer noch neun Uhr morgens und es stellt sich heraus dass die ganze Geschichte zwischen dem ersten und dem zweiten Sprung der Phantasie des sterbenden Studenten entsprungen war Die erzahlte Zeit betragt also nicht zwolf Stunden sondern nur wenige Minuten Der Leser akzeptiert diese ruckwirkende Umdeutung weil sich sonst ein unaufloslicher Widerspruch zwischen dem Hauptteil und dem Ende des Romans ergabe Mimetisch unentscheidbares Erzahlen Im Gegensatz zu den anderen beiden Beispielen gibt es beim mimetisch unentscheidbaren Erzahlen keine stabile und eindeutig bestimmbare erzahlte Welt hinter der Rede des Erzahlers Somit lasst sich auch nicht in Bezug auf diese Welt entscheiden welche Aussagen des Erzahlers als unzuverlassig abzuheben sind Besonders die Texte der Moderne und Postmoderne losen diesen festen Bezugspunkt auf sodass der Eindruck der Unzuverlassigkeit nicht nur teilweise und vorubergehend entsteht sondern fur den ganzen Text gelten kann Es stellt sich eine grundsatzliche Unentscheidbarkeit daruber ein was in der erzahlten Welt tatsachlich der Fall ist Als klassisches Beispiel fur diese Art des Erzahlens gelten die nouveaux romans von Alain Robbe Grillet Wahrend aber bei Robbe Grillet Szenen aneinandergereiht und nicht durch ein wahrnehmendes Bewusstsein kommentiert oder gefiltert werden externe Fokalisierung kann genauso eine extreme interne Fokalisierung zum mimetisch unentscheidbaren Erzahlen gehoren Ein Beispiel hierfur ist der Roman Wie es ist von Samuel Beckett Er besteht aus bruchstuckhaften Satzen und Satzteilen die sich nicht einmal mehr zu einem Bewusstseinsstrom zusammensetzen lassen Er wird nicht durch die Logik einer Handlung sondern durch Wiederholungen bestimmter Namen Ereignisse und Themen strukturiert eine stabile und eindeutige erzahlte Welt lasst sich nicht rekonstruieren BeispieleZu den folgenden Beispielen wird in den jeweiligen Artikeln der Einsatz des unzuverlassigen Erzahlens genauer ausgefuhrt Literatur Ambrose Bierce An Occurrence at Owl Creek Bridge Agatha Christie Alibi Mark Z Danielewski Das Haus House of Leaves Bret Easton Ellis American Psycho Max Frisch Stiller Kazuo Ishiguro Was vom Tage ubrigblieb Henry James The Turn of the Screw Christian Kracht Faserland Die Toten Alice Munro Freundin aus meiner Jugendzeit Vladimir Nabokov Lolita Chuck Palahniuk Fight Club Leo Perutz Der Meister des Jungsten Tages Edgar Allan Poe Das verraterische Herz Der schwarze Kater Christian Reuter SchelmuffskyFilm Die ublichen Verdachtigen Fight Club Mulholland Drive Strasse der Finsternis Rashomon Das Lustwaldchen The Sixth Sense Wild ThingsSpiele Final Fantasy VIILiteratur1961 Wayne C Booth Rhetoric of Fiction University of Chicago Press Chicago 1961 1981 Felix Martinez Bonati Fictive Discourse and the Structures of Literature A Phenomenological Approach Cornell University Press Ithaca und London 1981 1981 Tamar Yacobi Fictional Reliability as a Communicative Problem Poetics Today 2 1981 S 113 126 1998 Ansgar Nunning Hrsg Unreliable narration Studien zur Theorie und Praxis unglaubwurdigen Erzahlens in der englischsprachigen Erzahlliteratur WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998 ISBN 3 88476 316 4 1999 Matias Martinez Michael Scheffel Einfuhrung in die Erzahltheorie 9 erweiterte Auflage Beck Munchen 2012 Erstausgabe 1999 ISBN 978 3 406 47130 8 2000 Dorrit Cohn Discordant Narration Style 34 2000 S 307 316 2004 Dieter Meindl Un reliable Narration from a Pronominal Perspective In The Dynamics of Narrative Form Studies in Anglo American Narratology Walter de Gruyter Berlin 2004 2005 Ansgar Nunning Reconceptualizing Unreliable Narration Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches In James Phelan Peter J Rabinowitz Hrsg A Companion to Narrative Theory Blackwell Companions to Literature and Culture Band 33 Blackwell Oxford 2005 S 89 107 2005 Fabienne Liptay Yvonne Wolf Hrsg Was stimmt denn jetzt Unzuverlassiges Erzahlen in Literatur und Film edition text kritik Munchen 2005 ISBN 978 3 88377 795 5 2006 Jorg Helbig Hrsg Camera doesn t lie Spielarten erzahlerischer Unzuverlassigkeit im Film WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2006 ISBN 978 3 88476 842 6 Focal point Band 4 2006 Monika Fludernik Erzahltheorie eine Einfuhrung 4 Auflage Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2013 Erstausgabe 2006 als Einfuhrung in die Erzahltheorie ISBN 978 3 534 29920 1 2006 Theresa Heyd Understanding and handling unreliable narratives In Semiotica Band 162 2006 S 217 243 2008 Tom Kindt Unzuverlassiges Erzahlen und literarische Moderne Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiss Niemeyer Tubingen 2008 ISBN 978 3 484 18184 7 Studien zur deutschen Literatur Band 184 zugleich Dissertation Universitat Hamburg 2001 2009 Susanne Kaul Jean Pierre Palmier Timo Skrandies Hrsg Erzahlen im Film Unzuverlassigkeit Audiovisualitat Musik Transcript Bielefeld 2009 ISBN 978 3 8376 1134 2 Medien Kultur Analyse Band 6 2010 Michaela Krutzen Dramaturgien des Films Das etwas andere Hollywood Fischer Frankfurt am Main 2010 ISBN 978 3 10 040503 6 S 159 201 2011 Poul Behrendt Per Krogh Hansen The Fifth Mode of Representation Ambiguous Voices in Unreliable Third Person Narration In Strange voices in narrative fiction Per Krogh Hansen Stefan Iversen Henrik Skov Nielsen und Rolf Reitan de Gruyter Berlin 2011 ISBN 978 3 11 026857 7 Inhaltsverzeichnis S 219 251 2014 Jean Pierre Palmier Gefuhlte Geschichten Unentscheidbares Erzahlen und emotionales Erleben Fink Munchen 2014 ISBN 978 3 7705 5581 9 2015 Bernd Leiendecker They Only See What They Want to See Geschichte des unzuverlassigen Erzahlens im Spielfilm Schuren Marburg 2015 ISBN 978 3 89472 908 0 Marburger Schriften zur Medienforschung Band 55 zugleich Dissertation Universitat Bochum 2021 Matthias Aumuller Tom Kindt Hrsg Der deutschsprachige Nachkriegsroman und die Tradition des unzuverlassigen Erzahlens Stuttgart Metzler 2021 Open Access https link springer com book 10 1007 978 3 476 05764 8 2023 Matthias Aumuller Unzuverlassiges Erzahlen Studien zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur Mit einem Kapitel von Tom Kindt Dana Kissling und Victor Lindblom Stuttgart Metzler 2023 Open Access https link springer com book 10 1007 978 3 662 67047 7 WeblinksEintrag im Lexikon der Filmbegriffe Daniel Stein Unzuverlassiges Erzahlen in Comicserien Veroffentlicht am 28 Marz 2013 auf Gesellschaft fur Comicforschung Eintrag im Fachlexikon der Kinder und JugendliteraturEinzelnachweiseMatias Martinez Michael Scheffel Einfuhrung in die Erzahltheorie C H Beck Munchen 1999 ISBN 3 406 44052 5 11 erweiterte und aktualisierte Auflage 2019 S 101 106 Wayne C Booth Rhetoric of Fiction University of Chicago Press Chicago 1961 S 158 f Vgl exemplarisch Ansgar Nunning Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom Deutsche Vierteljahrsschrift fur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Band 67 1993 S 1 25 Silke Lahn Jan Christoph Meister Einfuhrung in die Erzahltextanalyse J B Metzler Stuttgart 2008 3 aktual Auflage 2016 ISBN 978 3 476 02598 2 S 189 190 206 Vgl Ansgar Nunning Reconceptualizing Unreliable Narration Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches In James Phelan Peter J Rabinowitz Hrsg A Companion to Narrative Theory Blackwell Companions to Literature and Culture Band 33 Blackwell Oxford 2005 S 89 107 und Tamar Yacobi Fictional Reliability as a Communicative Problem Poetics Today 2 1981 S 113 126 Tamar Yacobi unterscheidet vier Naturalisierungsstrategien genetic generic existential functional und perspectival vgl Tamar Yacobi Fictional Reliability as a Communicative Problem Poetics Today 2 1981 S 113 126 Ansgar Nunning Unreliable Narration zur Einfuhrung Grundzuge einer kognitiv narratologischen Theorie und Analyse unglaubwurdigen Erzahlens In Ansgar Nunning Hrsg Unreliable narration Studien zur Theorie und Praxis unglaubwurdigen Erzahlens in der englischsprachigen Erzahlliteratur Wiss Verlag Trier 1998 S 3 39 hier S 25 Vgl Theresa Heyd Understanding and handling unreliable narratives Semiotica 162 2006 S 217 243 Tom Kindt Unzuverlassiges Erzahlen und literarische Moderne Studien zur deutschen Literatur Band 184 Niemeyer Tubingen 2008 Vgl Theresa Heyd Understanding and handling unreliable narratives Semiotica 162 2006 S 224 Matias Martinez Michael Scheffel Einfuhrung in die Erzahltheorie 6 Auflage Beck Munchen 2006 Vera Nunning Conceptualising Un reliable Narration and Un trustworthiness In dieselbe Hrsg Unreliable Narration and Trustworthiness Intermedial and Interdisciplinary Perspectives Walter de Gruyter Berlin Munchen Boston 2015 ISBN 978 3 11 040810 2 S 1 30 hier S 12 f Andreas Ohme Skaz und Unreliable Narration Entwurf einer neuen Typologie des Erzahlers Walter de Gruyter Berlin 2015 ISBN 3 11 040389 7 S 137 ff Hubert Zapf Timo Muller Amerikanische Literaturgeschichte Springer Berlin 2024 ISBN 978 3 662 68061 2 S 597 Robert Vogt Theorie und Typologie narrativer Unzuverlassigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzahlliteratur Walter de Gruyter Berlin Boston 2018 ISBN 978 3 11 054852 5 S 229 251 Victor Lindblom Wer bin ich und was kann ich dagegen tun Fiktionale Wahrheit und mimetisch unzuverlassiges Erzahlen in Max Frischs Stiller 1954 Kapitel aus Matthias Aumuller Tom Kindt Der deutschsprachige Nachkriegsroman und die Tradition des unzuverlassigen Erzahlens Metzler Berlin 2021 ISBN 978 3 476 05763 1 Andreas Ohme Skaz und Unreliable Narration Entwurf einer neuen Typologie des Erzahlers Walter de Gruyter Berlin 2015 ISBN 3 11 040389 7 S 152 167 Robert Vogt Theorie und Typologie narrativer Unzuverlassigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzahlliteratur Walter de Gruyter Berlin Boston 2018 ISBN 978 3 11 054852 5 S 25 Michael Peter Hehl Kracht Christian Faserland Roman In Heribert Tommek Matteo Galli Achim Geisenhansluke Hrsg Wendejahr 1995 Transformationen der deutschsprachigen Literatur Walter de Gruyter Berlin Boston 2015 ISBN 978 3 11 041996 2 S 426 437 hier S 427 Niels Werber Krachts Pikareske Faserland neu gelesen In Zeitschrift fur Literaturwissenschaft und Linguistik Band 44 Nr 3 1 September 2014 ISSN 0049 8653 S 119 129 doi 10 1007 BF03379987 springer com abgerufen am 12 Januar 2018 Lynn Blin Alice Munro s Naughty Coordinators in Friend of My Youth in Journal of the Short Story in English JSSE Les cahiers de la nouvelle ISSN 0294 0442 n 55 Autumn 2010 Special issue The Short Stories of Alice Munro Natalia Stagl Muse und Antimuse Die Poetik Vladimir Nabokovs Bohlau Koln Weimar Wien 2006 S 139 Robert Vogt Theorie und Typologie narrativer Unzuverlassigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzahlliteratur Walter de Gruyter Berlin Boston 2018 ISBN 978 3 11 054852 5 S 272 291 Matthias Bauer Romantheorie und Erzahlforschung Eine Einfuhrung Metzler Stuttgart 2005 ISBN 978 3 476 02079 6 S 77 Rachel McCoppin Horrific Obsessions Poe s Legacy of the Unreliable and Self Obsessed Narrator In Dennis R Perry Carl H Sederholm Hrsg Adapting Poe Re Imaginings in Popular Culture Palgrave MacMillan New York 2012 ISBN 978 1 349 29898 3 S 105 119 hier S 105 108 Achim Aurnhammer Nicolas Detering Deutsche Literatur der Fruhen Neuzeit Narr Francke Attempto Tubingen 2019 ISBN 978 3 8252 5024 9 S 291 Robert Vogt Combining Possible Worlds Theory and Cognitive Theory Towards an Explanatory Model for Ironic Unreliable Narration Ironic Unreliable Focalization Ambiguous Unreliable and Alterated Unreliable Narration in Literary Fiction In Vera Nunning Hrsg Unreliable Narration and Trustworthiness Intermedial and Interdisciplinary Perspectives Walter de Gruyter Berlin Munchen Boston 2015 S 131 154 hier S 149 Emily R Anderson Telling Stories Unreliable Discourse Fight Club and the Cinematic Narrator In Journal of Narrative Theory 40 2010 Heft 1 S 80 107 Dominik Orth Lost in Lynchworld Unzuverlassiges Erzahlen in David Lynchs Lost Highway und Mulholland Drive Ibidem Stuttgart 2005 ISBN 978 3 89821 478 0 Bo Petterson Kinds of Unreliability in Fiction Narratorial Focal Expositional and Combined In Vera Nunning Hrsg Unreliable Narration and Trustworthiness Intermedial and Interdisciplinary Perspectives Walter de Gruyter Berlin Munchen Boston 2015 S 109 130 hier S 118 Jeremy Parish Dissecting Final Fantasy VII Part 5 An RPG Gets Existential With Its Central Question Who Am I In USgamer Abgerufen am 27 Marz 2017 amerikanisches Englisch